Ukraine-Krieg: Kann eine internationale Hungerkrise noch verhindert werden?
Die Ukraine und Russland stellen zusammen mehr als 25 Prozent des weltweit gehandelten Weizens. Der Ukraine-Krieg führt nun zu einem weitgehenden Exportstopp des Getreides. In einigen Ländern drohen deswegen schwere Hungersnöte. Angesichts dieser Situation muss die landwirtschaftliche Produktion in Europa neu gedacht werden.
Der Ukraine-Krieg bringt nicht nur Leid über die Menschen vor Ort, sondern auch über die Menschen, die von ukrainischen und russischen Getreidelieferungen abhängig sind. Russland und die Ukraine exportieren zusammen mehr als ein Viertel des Weizens der Welt und ernähren damit Milliarden von Menschen in Form von Brot, Nudeln und verpackten Lebensmitteln.
Als Folge des Kriegs wird nur noch ein Bruchteil der ursprünglichen Mengen exportiert und die Lebensmittelpreise steigen stark an. Abhängig vom Wohlstand und der Getreideproduktion der verschiedenen Importländer gestalten sich die Auswirkungen dieser Entwicklung unterschiedlich. In strukturschwachen Ländern, die viel Getreide aus Russland und der Ukraine importieren, drohen besonders drastische Konsequenzen wie Hungersnöte und soziale Unruhen.
Ukraine: Krieg verhindert Anbau und Export von Weizen
Mit ihren weiten Flächen und fruchtbaren Böden am Schwarzen Meer ist die Ukraine ein zentraler Getreide-Exporteur. Vor allem Weizen wird in dem osteuropäischen Land angebaut. Der Krieg erschwert nun aber den Anbau und vor allem den Export des wichtigen Agrar-Rohstoffes. In den russisch besetzten Gebieten in der Ostukraine ist die Agrarproduktion weitgehend zusammengebrochen.
Im Westen ist sie aufgrund des Mangels an Landarbeitern nur noch eingeschränkt möglich, da die junge Landbevölkerung im Krieg dient. Darüber hinaus exportiert die Ukraine weniger Weizen, da in erster Linie die Versorgung der eigenen Bevölkerung gesichert werden soll. Das Getreide, das noch exportiert wird, kann nur verzögert oder gar nicht außer Landes geschafft werden, da Lieferwege blockiert oder zerstört sind und es vielerorts an Treibstoff fehlt.
Die Ukrain Grain Association (UGA) rechnet mit einem Rückgang der Weizenernte auf 18,2 Mio Tonnen im Vergleich zum letzten Jahr mit 33 Mio Tonnen.
Russland first - Der größte Weizenexporteur stoppt größtenteils die Ausfuhr
Russland ist der größte Weizenexporteur der Welt. Im Zuge des Ukraine-Krieges wurde der Weizenexport nun bis Ende Juni gestoppt. Bereits im vergangenen Jahr wurden die Weizenlieferungen durch Russland begrenzt. Hauptimporteure des russischen Getreides sind der Jemen, Nigeria und Indonesien.
Laut der Vizeregierungschefin Wiktorija Abramtschenko solle auf diese Weise der Bedarf in Russland gesichert und Preissteigerungen verhindert werden. Ausnahmen von diesem seit dem 15. März geltenden Exportstopp bilden Lieferungen innerhalb der von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion und in die selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk.
Auswirkungen: In vielen Ländern zeichnet sich die größte Hungersnot der Menschheitsgeschichte ab
Der reduzierte Export von Weizen hat für zahlreiche Länder Afrikas und des Nahen Ostens gravierende Folgen. Allein 45 Staaten in Afrika haben Getreide überwiegend aus der Ukraine und Russland bezogen. Ganz besonders betroffen sind nordafrikanische Länder wie Marokko, Algerien und Ägypten. Auch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) warnt, da die Hälfte, der von ihnen an Krisenregionen gelieferten Nahrungsmittel aus Russland und der Ukraine bezogen werden.
Marokko: 36,9 Millionen Einwohner, Importe 2021/22: 5,5 Millionen Tonnen Weizen und 0,5 Millionen Tonnen Gerste
Algerien: 43,9 Millionen Einwohner, Importe 2021/22: 8 Millionen Tonnen Weizen und 0,9 Millionen Tonnen Gerste
Ägypten: 102,3 Millionen Einwohner, Importe 2021/22: 12 Millionen Tonnen Weizen
Saudi-Arabien: 34,8 Millionen Einwohner, Importe 2021/22: 3 Millionen Tonnen Weizen und 5,2 Millionen Tonnen Gerste
Quelle: USDA, Weltbank
Der weitgehende Exportstopp von Getreide aus Russland und der Ukraine trifft vielerorts auf eine bereits durch die Corona-Pandemie und Extremwettereignisse geprägte prekäre Ausgangslage. Die durch den Krieg ausgelöste globale Nahrungsmittelkrise droht daher laut dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in vielen Regionen zu einer „humanitären Katastrophe“ zu werden. Die Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) warnt vor der „schwersten globalen Ernährungskrise der vergangenen Jahrzehnte“.
„Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass die Ukraine-Krise zu einer globalen Hungerkrise wird – denn Kriege befeuern Hunger. Bereits heute leiden 811 Millionen Menschen auf der Welt an Hunger. Die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln, um einer Ernährungskrise ungekannten Ausmaßes vorzubeugen!“, sagt Jan Sebastian Friedrich-Rust, Geschäftsführer von Aktion gegen den Hunger.
Eine Hochrechnung des WFP zeigt: Hält der Krieg bis Juni an, werden weitere 47 Millionen Menschen zusätzlich zu den 276 Millionen Menschen auf Vorkriegsbasis an Hunger leiden.
Prävention einer großen Hungerkrise: Produktion in Europa
Angesichts dieser Prognosen stellt sich international die Frage, wie eine Hungerkrise verhindert oder zumindest entschärft werden kann. Kurzfristig könnten zahlreiche Staaten – darunter auch Deutschland – verstärkt Getreide exportieren und damit für Entlastung sorgen. Eine langfristige und damit nachhaltigere Lösung besteht im Aufbau einer autarken Landwirtschaft in den Entwicklungsländern, um somit die Importabhängigkeit insgesamt zu verringern. Doch das braucht Zeit. Zeit die gegenwärtig niemand aufbringen kann.
Laut Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) müssten zunächst die internationalen Märkte stabilisiert und offengehalten werden. Ein gegenteiliges Handeln würde zu einer Verschärfung der Situation führen. Um eine Stabilisierung erzielen zu können, sollen Landwirte unterstützt werden, damit diese ihre Arbeit machen und Lebensmittel bezahlbar halten können.
Umstrittene Idee: Ausweitung der europäischen Agrarproduktion
Die aktuelle Lage hat den Diskurs über eine ökologische Wende in der deutschen und europäischen Landwirtschaft neu entfacht. Die Union fordert, dass verstärkt auf Versorgungssicherheit geachtet werden müsse. Dazu gehöre die Intensivierung der begrenzten Agrarfläche in Europa. An dem Vorschlag, die europäische Agrarproduktion auszuweiten, gibt es jedoch auch viel Kritik.
SPD-Expertin Susanne Mittag warnte zum Beispiel mit Blick auf Dünge-Auflagen: „Der Krieg in der Ukraine darf nicht zum Anlass für eine Rolle rückwärts in der Agrarpolitik missbraucht werden.“ Auch der EU-Kommissar Frans Timmermans sieht die Ausweitung der europäischen Agrarproduktion, die maßgeblich in Brüssel bestimmt wird, kritisch.
Änderung in der Getreide-Nutzung anstatt Intensivierung der Produktion
Nicht nur eine Ausweitung der Produktion, sondern auch Änderungen in der Nutzung des Getreides könnten zusätzliche Exporte in von Hunger bedrohten Ländern ermöglichen. In der EU werden zum Beispiel nur 23 Prozent des verfügbaren Getreides für die direkte Ernährung von Menschen genutzt. 62 Prozent wiederrum werden als Futter in der Massentierhaltung eingesetzt. Bei einer Reduktion der Nutztierhaltung würde folglich mehr Getreide für den Export zur Verfügung stehen.
In Deutschland werden rund 7 Prozent des Getreides für die Beimischung in Diesel verwendet, um Biokraftstoffe wie E10 zu produzieren. Dieser macht aber nur einen geringen Teil der Kraftstoffe aus. Umweltministerin Lemke mahnt zurecht an: „Niemand will beim Tanken dafür verantwortlich sein, dass der Hunger auf der Welt verschärft wird.“
Bleibt zu hoffen, dass auf die Worte von Olaf Scholz: „Wir werden diese armen Länder nicht alleine lassen, wir werden sie unterstützen.“ Taten folgen. Das gesamte Ausmaß des Konflikts auf Fruchtfolge und Produktion wird erst im späteren Verlauf 2022 zu spüren sein.